Thailändisches Puppentheater

Eine Posse oder (viel) mehr? - Eine Reisereportage

Der folgende Text antstand nach einer Reise nach Myanmar im Januar und Februar 2016, die auf der Hin- und Rückreise durch Thailand führte.

 

Seit Jahren führt mein erster Gang nach einer Ankunft auf dem Flughafen Suvanabhumi zum nächste Zeitungsstand, um dort eine Ausgabe der Bangkok Post und oder der Nation zu erwerben, die allerdings nicht immer zu haben sind. Das kleine Ritual geht auf meinen siebenjährigen Aufenthalt in Thailand in den 1980er Jahren zurück. Damals gehörte die Lektüre beider Zeitungen zum morgendlichen Frühstück wie das vier Minuten lang gekochte Frühstücksei. Ich brauchte diese Medien als zwei Kompasse, die mir halfen, mich in der Politik und Kultur dieses lange Zeit ziemlich fremden Landes zurecht zu finden. Nach etwa drei Jahren hatte ich das Gefühl, dass ich eine Peilung hatte, was in Thailand wohl in welche Richtung lief. Ich war Pastor der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Thailand und las alles, was mit Religion hatte, mit besonderer Aufmerksamkeit auf dem Hintergrund der fixen Idee, ich könne das Land nur verstehen, wenn ich eine Ahnung hätte, wie sich die buddhistische Religion hier wohl anfühlen mochte.

Da waren die Artikel von Sanitsuda Ekachai sehr hilfreich, die regelmäßig in der Bangkok Post erschienen. Sie waren kritisch gegenüber dem Mainstream-Buddhismus der Amulette und abergläubischen Praktiken, gegenüber einem Buddhismus, den sie als korrumpiert bezeichnete. Diese Ansichten waren mir sehr sympathisch und trugen dazu bei, dass ich mich theoretisch wie praktisch mit einem ihrer Vorbilder eines "wahrhaftigen" Buddhismus beschäftigte, Buddhadasa Bhikkhu, dem Mönch, der 1932 kurz vor dem Ende der absoluten Monarchie das Kloster Suan Mokkh, den "Garten der Befreiung" nördlich von Surat Thani gegründet hatte.

Meine Morgenlektüre informierte mich laufend über die Skandale innerhalb des Sangha, der Gemeinschaft der Mönche. Sex, Drogen und das Anhäufen von Reichtum auf Grund der Spenden von Anhängern füllten regelmäßig die Zeitungsspalten und boten Khun Sanitsuda und anderen reichlich Stoff für kritische Kolumnen. Daran änderte sich in den folgenden Jahren nicht wie meine gelegentlichen Stippvisiten in Thailand zeigten.

 In diesem Jahr wurde mir der Gang zum Zeitungsstand am Flughafen erspart. Meine beiden Orientierungshelfer lagen beim Einsteigen zum jüngsten Flug nach Bangkok Ende Januar zum Mitnehmen bereit. Nach einem ersten Blick in die Blätter fühlte ich mich gleich wieder wie zu Hause, und das nicht nur wegen der unveränderten Kleidung der thailändischen Flugbegleiterinnen. Die Bangkok Post berichtete am 25. Januar u.a. davon, dass der gerade kurz vor der Fertigstellung stehende Entwurf für die 19. Verfassung des Landes von allen Parteien abgelehnt würde. Das kam mir sehr bekannt vor. Und auf S. 1 der Nation fand sich auf farbig herausgehobenen Untergrund ein Text über einen neuen gesellschaftlichen Trend im Lande, die liebevolle Fürsorge für "Kinder Engel" (look thep).

Das Bild zum Text zeigte verschiedene lebensecht aussehende Puppen in einem Laden in Nonthaburi, der auf den Verkauf der "Engel" spezialisiert ist. Sie werden von ihren Besitzern behandelt wie echte Kinder, man unterhält sich mit ihnen, führt sie zum Essen aus und neuerdings verkauft Thai Smile Airways, eine neue Tochter von Thai Airways International auch Tickets für die Kinder und reserviert einen Sitzplat

 

Die Puppen werden zu Engeln, nachdem ihnen von einem Mönch eine besondere Behandlung zuteil geworden ist, die in dem Artikal als "Segnung" beschrieben wurde. Danach bringen sie Glück. Es gibt sie schon seit 50 Jahren, aber die Nachfrage stieg vor sechs Jahren, als viele Frauen mittleren Alters und einsame Menschen die Puppen kauften. Ein Boom begann, als ein bekannter DJ sich in den sozialen Medien mit einer Puppe abbilden ließ und verkündete, er habe dank seines Engels berufliche Erfolge erzielt.

Zwei Tage später - die Zeitungen am Tage meiner Ankunft habe ich verpasst - ist das Thema gut für den Aufmacher der Nation auf der Titelseite. Ein großes Bild zeigt einen Mönch, der die Lippen einer Puppe mit einem goldenen Filzschreiber der Marke PenTouch berührt. Darunter die Schlagzeile: "Alarm um 'Kinder Engel'".

 

Der Alarm wurde ausgelöst von der Aufsichtsbehörde der zivilen Luftfahrt. Die Flugsicherheit könnte gefährdet sein. Flugsitze sind nicht für die Puppen gemacht und es muss geklärt werden, wie die "Kinder" bei den Sicherheitskontrollen behandelt werden.

Die Angelegenheit ist Chefsache, die vom Direktor der Behörde in die Hand genommen wird. Er meint, man brauche einheitliche Regelungen und meint, die Puppen sollten wie Handgepäck behandelt werden - also ab ins Gepäckfach oder unter den Sitz, aber nicht auf den Arm des jeweiligen Elternteils während des Flugs. Und dann muss auch noch geklärt, welcher Service den Engeln, für die ein Platz gebucht ist, zusteht. Thai Smile serviert auch Essen, aber vergibt aus Sicherheitsgründen nur Fensterplätze für die mitreisenden Puppenkinder.

Die Angelegenheit verdient besondere Aufmerksamkeit, da in Chiang Mai in einer auf dem Flugplatz abgestellten Tasche eine Puppe gefunden worden ist, in der 200 Amphetamine versteckt waren. In Bangkok durchsuchte die Polizei einige einschlägige Verkaufsläden. Es gibt den Verdacht, dass Steuern hinterzogen wurden.

Auch die mit der Nation konkurrierende Bangkok Post, die in der von mir im Flieger angebotenen Ausgabe noch nichts über diese Angelegenheit berichtet hatte, informiert darüber jetzt auf der ersten Seite und in anderen Teilen des Blattes. Sie stellt dabei die Neigung der Thais zum Aberglauben in den Vordergrund und bringt dazu an anderer Stelle auch einen Kommentar eines Mönches, der darauf hinweist, dass sich die Leute doch auf die Realitäten des Lebens besinnen sollten. Dann gibt es aber auch Berichte von einzelnen „Kinderhaltern“, die beschreiben, warum sie an die Kraft der Glücksbringer glauben. Sie haben tatsächlich geholfen, den erwünschten Job zu bekommen oder auch einen Lotteriegewinn.

Beide Zeitungen kommentieren das Phänomen in verschiedenen Rubriken. Ein Editorial in der Nation unter der Überschrift "Invasion der 'Kinder Engel'" kritisiert den auf Aberglauben beruhenden Hype scharf und fordert Geschäftsleute auf, den Kundendienst für die Puppen einzustellen. Der Kommentator weiß, dass für manche Puppen sogar Privatlehrer eingestellt werden. Hier sei eine Grenze erreicht, an der der Kunde nicht mehr recht habe. Eine Karikatur auf der Meinungsseite zeigt den aktuellen Premierminister, der vor einer Puppe im Kostüm der New Yorker Freiheitsstatue erschrickt. Damit wird auf die aktuelle politische Lage unter der aktuellen Herrschaft des Militärs Bezug genommen.

 

Eine andere Kolumne beleuchtet die psychologische und wirtschaftliche Seite der Sache. Die Bangkok Post porträtiert eine der vielen Verbreiter des neuen Kults. Eine 49jährige Frau, die schon als Wahrsagerin und Medium gearbeitet hat und schon immer Puppen liebte, hat vor Jahren eine davon magisch beschworen, um ihren störrischen Sohn zur Kandare zu bringen. Nachdem das geholfen hat, erschien das Kind ihr im Traum und meinte sie könne mit ihren Fähigkeiten, Puppen Leben einzuhauchen, Geld verdienen. Das tut sie nun. Die Engel, die sie verkauft, kosten zwischen 1.999 und 30.000 Baht, Beschwörung eingeschlossen.

 

Weiter gibt es Kommentare, die sich mit dem Zustand des Buddhismus in Thailand befassen. Dazu gibt es mehr Anlässe als diesen Aberglauben, der nach Meinung eines angesehenen Mönchs dem Kern der rationalen buddhistischen Lehre völlig widerspricht. Da ist einmal die Wahl eines neuen obersten Patriarchen. Nach dem Tod des letzten Amtsträgers im letzten Dezember, der 100 Jahre alt wurde, hat der oberste Mönchsrat einen 90jährigen Nachfolger bestimmt. Dessen Ernennung, bei der der König beteiligt sein muss, verzögert sich aber. Grund sind Vorwürfe, dass es bei der Beschaffung eines Mercedes-Sondermodells für den Mönch steuerliche Vorschriften umgangen wurden. Der Wagen wurde so deklariert als sei er steuersparend in Thailand zusammengebaut worden, was aber offenbar nicht zutrifft. Außerdem ist fraglich, was der Kandidat davon wusste. "Wir sind dabei, den Buddhismus zu verspotten", meint ein Kommentator.

 

Der Vorfall erinnert mich an eine eindrucksvolle Erfahrung aus Suan Mokkh, in der auch ein Mercedes eine Rolle spielte. Zu dem Meditationskurs, den ich da besuchte, gehört die Übung im Sprechgesang (chanting). Die wurde von einem sehr humorvollen Mönch geleitet. Eine Geschichte, die der erzählte ging so: Ein früherer Oberster Patriarch fuhr mit seinem großen Mercedes aus seinem Kloster. Dabei gab es einen Verkehrsunfall und der Mönch starb. Glucksend vor Lachen kommentierte der Mönch das nur mit einem Wort: anicca. Damit verwies er auf das buddhistische Grundgesetz der Unbeständigkeit allen Seins, das sich hier am Ende des Lebens des hohen Würdenträger wieder einmal herrlich bestätigt habe.

 

Ein anderer hochrangiger Mönch hat sich vor kurzem aufgehängt, ist weiter zu lesen. Er war beschuldigt worden, in Zusammenhang mit den Trauerfeiern für den verstorbenen Obersten Patriarchen Gelder veruntreut zu haben. Das entsprach aber eher nicht den Tatsachen. Der Kommentar zielt darauf, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wurde, da die bestätigten Vorwürfe gegen ein prominentes Mitglied der großen buddhistischen Bewegung Dhammakaya keinerlei Konsequenzen hatten. Der ehemalige Patriarch hatte verfügt, dass der einflussreiche Führer der Sekte die Robe ausziehen müsse, das sei aber nicht geschehen. Hier werde klar mit zweierlei Maß gemessen.

 

Die magischen Engel tauchen dann noch einmal am 28. Januar auf der Titelseite der Nation auf. Sie dürfen nur als Handgepäck mitfliegen, lautet die Schlagzeile. Der Text enthüllt dann einen typischen Thai-Kompromiss. Es bleibt möglich, Extra-Sitze zu kaufen wie ja auch für Gitarren oder besonderes Handgepäck - manche Leute kaufen einen Sitz für ihre Lieblingshandtasche, war schon vorher berichtet worden. Und was die Platzierung der Engel angeht, kann mit der Crew verhandelt werden, was da im Einzelfall möglich ist. Internationale Sicherheitsstandards dürfen aber nicht verletzt werden. Außerdem müssen sich die Puppen strengen Sicherheitskontrollen unterziehen. Wird das verweigert - als Grund denke ich mir eine Verletzung der Privatsphäre der magischen Person -, kann Passagieren der Flug verwehrt werden.

 

Außerdem enthält die Zeitung einen Bericht über eine Flugreisende, die Angst hat, in der Nähe eines look thep zu sitzen. Es könnte bei der "Behandlung" der Puppe auch schwarze Magie im Spiel sein. Thai Smile hat daraufhin angekündigt, dass das Personal angehalten ist, die Wünsche nach einem Sitzplatzwechsel zu erfüllen. Ein anderer Passagier, der ein Faible für die Engel hat, meint, diese Welle der Begeisterung wie der Aufregung werde schnell wieder vergehen. In diesem Sinne macht sich ein Kommentator am 29. Januar Gedanken, was denn mit den ganzen Kinder-Engeln passieren wird, wenn der Hype vorbei ist. Das klingt wie ein Nachruf.

 

Damit stellt sich die Frage, ob diese Vorgänge, die den Slogan zum Anlocken von Touristen als amazing Thailand in einem besonderen Licht erscheinen lassen, nur eine vorübergehende Posse sind oder ein besorgniserregendes Indiz sind, und zwar nicht nur, weil sie im Ausland Anlass geben, über Thailand zu lachen.

 

Die Affäre um den neuen Obersten Patriarchen ist nicht geklärt als ich zwei Wochen später meine letzten thailändischen Zeitungen lese. Und auch andere Fragen sind weiter ungelöst. Das heißt, dass einer der drei Säulen der thailändischen Identität - die Religion (sasana) - schon seit langem nicht mehr tragfähig ist. Und da auch eine andere Säule - der Zustand der Monarchie - unsicher ist, könnte der Staat bald nur noch auf dem einen Bein der Nation (chat) stehen. Angesichts des Antagonismus, der die Diskussionen um die nächste Verfassung kennzeichnet, ist sie tief gespalten.

 

Ich sehe meinem nächsten Zeitungslektüre in Thailand mit besorgter Neugier entgegen.

 

 

Nachbemerkung:

Am Ende des Jahres 2016 ist der verehrte König des Landes gestorben. Sein Sohn, der beim Volk unbeliebte bisherige Kronprinz ist sein Nachfolger, nicht die allseits beliebte Prinzessin Maha Chakri Sirindhorn. Die Einäscherung und Beisetzung des Königs wird erst im Laufe des Jahres 2017 stattfinden. Solange wird aus Respekt vor dem Verstorbenen Ruhe im Lande herrschen. Was danach passiert, ist offen.

Die Verfassung ist mittlereile per Volksentscheid angenommen, Neuwahlen stehen noch aus - ebenso eine Fortsetzung der Rolle der Religion im Land der Freien.

Immerhin: Ich erfahre, dass ein Mönch es untersagt hat, dass auch "Puppenkinder" in seinem Kloster eingeäschert werden können.