Vor Thailand
Ich beendete mein Theologiestudium im Jahr 1968. Die Turbulenzen der damaligen Zeit wirkten sich auch in unserer Ausbildung, dem Vikariat aus. Zusammen mit einigen Kollegen war ich Mitbegründer der "Lutherischen Notstandhefte", in der gegen die Disziplinierung von Kollegen, alte Zöpfe in der Kirche und vor allem gegen den damaligen Hamburg Bischof polemisiert wurde, Der Protest brachte uns 1968 und 1969 in den SPIEGEL und außerdem eine Serie von brüderlichen Gesprächen mit den Hauptpastoren ein. Später kam dann noch der Besuch eines Polizisten dazu, der wissen wollte, ob ich von Mitgliedern der RAF kontaktiert worden sei. War ich nicht.

Nach dieser aufmüpfigen Phase ging jeder von uns "Notstandvikaren" seinen Weg. Meiner führte mich nach dem 2. Theologischen Examen zuerst in ein Neubaugebiet im Norden Hamburgs, wo ich mit einem Kollegen ein Experiment in Sachen Gemeindeaufbau durchführen durfte. Es wurde für unsere Aktivitäten eine Wohnung angemietet und wir begleiteten die Bewohner bei ihrem Einzug. Von unseren Aktivitäten ist heute noch eine Interessengemeinschaft übrig geblieben - und eine Sammlung unserer Informationsblätter, die wir in alle Briefkästen steckten. Das Experiment musste nach einigen Jahren aus Geldmangel eingestellt werden.
Nach meiner Rückkehr aus Bangkok wurde ich eingeladen, an den Feiern zum 20jährigen Bestehens der Interessengemeinschaft dabei zu sein. Dabei bekam ich den Rückblick des Grüdungsvorsitzenden der Interessengemeinschaft in die Hand, in dem folgendes zu lesen ist:
Die Wohnung Lentersweg 31 war zum 1.7.1971 bezugsfertig. Ein Abenteuer in einer neuen Umgebung konnte beginnen. ... Nach und nach zogen weitere Beohner in die entstehende Siedlung, die wenigsten kannten sich. Viele Familien hatten kleine Kinder, hier entstanden die ersten Kontakte. Bei Gesprächen mit anderen Eltern war auch zu erfahren, dass die Kirche sich um de Bewohner kümmert und eine Interessengemeinschaft für die Bewohner bestehen soll.
Starke Unterstützung durch die Kirche
Bei einam ebndlichen Spaziergangwurden meine Frau und ich angesprochen, ob wir nicht mal zu einem Treffen dieser Interessengemeinschaft mitgehen wollten. Wir traen dort zwei sehr engagierte
Pastoren, Pastor Barth und Pastor Zöllner, die sich mit anderen Bewohnern um Sorgen und Anregungen der Bewohner kümmerten. Parkplätze gab es genug, dringend fehlten jedoch brauchbare
Kinderspielplätze. .... Die Verhandlungen mit den ... Wohnungsbaugesellschaften erwiesen sich als problematisch, zumal alle Aktivitäten der Interessengemeinschaft als Initiative der "Kirche"
angesehen wurde. (Argumente: warum macht/zahlt die Kirche das nicht selbst?). So beschloss die Interessengemeinschaft ... sich als gemeinnütziger Verein ... zu konstituieren.
Rückzug der Kirche - eine weitere Herauforderung für die Interessengemeinschaft
Die Unterstützung durch die Kirche als wichtiger Mitträger der Interessengemeinschaft wurde immer spärlicher, die Pastoren Barth und Zöllner wurden versetzt, die zuständige Gemeinde
verringerte die Betreuung der Siedlung in unverständlicher Weise. ...
Aus meiner Sicht haben wir damals einiges richtig gemacht. Wir haben Menschen in der Situation eines Neuanfangs begleitet, ihnen geholfen, ihre Anliegen anzupacken und sind dann
selber weitergezogen. "Kirche" muss mobil sein, sie ist - wie es im Hebräerbrief heißt - ein "wanderndes Gottesvolk. Das hatten unsere Vorgesetzten und wir damals aber wohl nicht so ganz
verstanden und vermittelt, so dass unser Engagement falsche Erwartungen weckte, die dann enttäuscht wurden, wie der Bericht zeigt.

Es zeigte sich sehr schnell, dass im Stellenplan der "Kirche" auf Dauer kein Platz für zwei Pastoren in einem relativ kleines Projekt war. Unsere ersten Stellen als "Hilfsprediger" waren zeitlich begrenzt und da ich im Unterschied zu meinem Kollegen durch ganz Hamburg fahren musste, um zu meinem Arbeitsplatz zu kommen, bewarb ich mich nach gut einem Jahr um eine andere Stelle. Ich wurde Pastor am Rauhen Haus, wo ich am Aufbau der heutigen Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie mitwirkte.
Theologie war hier Pflichtfach, aber auch Wissenschaftstheorie. Es ging darum, die Rolle krchlicher Diakonie als Vorhut für soziales Engagement neu zu bestimmen und fortschrittliche Sozialarbeiter auszubilden.

Nach einigen Jahren stellte ich fest, dass ich selbst doch ein wenig mehr praktische Erfahrung brauchte, um Studenten auf eine sozialpädagogisch-diakonische Praxis vorzubereiten und ging in eine nahe Gemeinde, die Timotheusgemeinde in Horn, die für ihre Arbeit mit randständigen Jugendlichen bekannt war. Hier wurde ich vor allem von den Besuchern der Altentagesstätte zu einem zumindest brauchbaren Pastor erzogen. Schwerpunkte meiner Arbeit waren - wen wundert's - diakonische Projekte. Ich war Mitbegründer der Diakoniestation für den Stadtteil und begann eine Schularbeitenhilfe für zugewanderte ausländische Kinder, die ünerwiegend aus der Türkei kamen. Die Kontakte mit deren Eltern führten zur Gründung des ersten nicht-politischen deutsch-türkischen Verein in Hamburg, der immer noch existiert. Ein Höhepunkt unserer Tätgkeit war ein Umzug der ausländischen Schüler und ihrer deutschen Helfer, überwiegend Gymnasiasten, durch den Stadtteil am 23. April, der in der Türkei als "Kinderfest" ein staatlicher Feiertag ist.
Die Erfahrungen, die ich in dieser Arbeit machte, brachten mich dann nach acht Jahren Gemeindearbeit auf die Idee, ins Ausland zu gehen. Ich wollte sehen, wie es sich als - allerdings priviligierter - Gastarbeiter im Ausland anfühlt, Die Stelle in Istanbul war nicht frei, so bewarb ich mich auf die Stelle in Bangkok und wurde genommen. Ich war dort am Ende der einzige Kandidat.

Nach Thailand
Dies ist eine Luftbildaufnahme meiner Nach-Bangkok-Gemeinde, dem Osdorfer Born in Hamburg. Es handelt sich um eine Großsiedlung im Westen Hamburgs, die zwischen 1967 und 1972 gebaut wurde, also in der Zeit, in der ich meine erste Stelle antrat. Sie ist ein schöner Beweis für die Annahme, dass ein Täter gerne zu einem Ort zurückkehrt, der dem seiner früheren (Un-)Taten ähnelt. Ich hatte in einer kleinen Neubausiedlung in der kleinen Hamburgischen Landeskirche begonnen und kam nun in eine sehr viel größere Gemeinde in der 1977 gegründeten Nordelbischen Kirche zurück. Ich erinnere mich, dass mein Kollege und ich 1970 neidisch auf das große Gemeindezentrum am "Born" waren. Nun merkte die Gemeinde, welche Last dieses riesige Zentrum angesichts schrumpfender Kirchenmitglieder und Steuermittel war.
In den 60er Jahren waren an die 80 % der Bewohner zumindest auf dem Papier lutherische Christen, Ende des Jahrhunderts waren es gerade noch ein Drittel. Austritte waren dafür ebenso verantwortlich als der demographische Wandel. Das Zentrum war als Bürgerzentrum mit einem christlichen Dach gebaut worden, jetzt war die Aufgabe, eine neue Zweckbestimmung zu finden.
Der Osdorfer Born galt als ein sozialer Brennpunkt Hamburgs. Das zeigte sich im buchstäblichen Sinn, als der Kirchraum kurz nach meiner Antrittspredigt Anfang 1990 abbrannte. Hier war mit Holz gearbeitet worden, das offenbar von Kindern von außen beim Spielen angezündet worden war. In meiner Vorstellung im Gemeindebrief bemerkte ich daraufhin, dass ich offenbar nur von einer heißen Weltgegend - Bangkok - in eine andere gewechselt sei. Kurze Zeit darauf klingelte eine empörte Bewohnerin an der Tür. Damit hätte ich den Stadtteil diskriminiert. Noch so eine Bemerung und sie würde ene Klage wegen Verleumdung einreichen.
Der schlechte Ruf des Stadtteils war eines seiner großen Handicaps, aber auch ein Vorteil. Ich wurde regelmäßig bedauert, dass ich in einer so "schwierigen" Gegend tätig war. Dabei fand ich
die Arbeit mit zwei Kollegen im Vergleich zu Bangkok, wo ich sehr viel mehr zu tun hatte, eher angenehm. Außerdem erhielt der Stadtteil viel Geld, um seine Probleme zu kompensieren und das galt
über Jahre auch für die Kirche.

Das Geld reichte dann aber irgendwann nicht mehr, um das große Zentrum zu unterhalten. Am Ende meiner Amtszeit ergab sich eine Lösung des Problems, nachdem der Versuch, das Haus als ein vom Staat gefördertes Bürgerzentrum zu nutzen, gescheitert war. Es wurde aber ein Mieter gefunden, der den größten Teil des Zentrums zu dem ersten Kindermuseum in Hamburg umbaute. Die Gemeinde behielt den Kirchraum und zwei angrenzende Räume für Gemeindeveranstaltungen. In einem der drei Pastorare wurden das Gemeindebüro und weitere Räume für Gemeindeveranstaltungen untergebracht.
Im Zuge der Umbauarbeiten erhielt das Zentrum auf seiner Rückseite auch eine Art Kirchturm. Das geschah nach menem Weggang ebenso wie die Namensgebung für die Gemeinde. Sie heißt jetzt Maria-Magdalena Gemeinde. Vorher hatte sie schlicht "Kirchengemeinde Osdorfer Born" geheißen.
Mittlerweile ist am Born auch ein Extra-Bürgerzentrum entstanden. Einiges von dem, was zu meiner Zeit "abgewickelt" werden musste, wurde jetzt wieder "neu" entwickelt.