Im August 1988 begann in Birma eine Volkserhebung gegen die Regierung, die später den Namen "Demokratie-Bewegung" erhielt. In der Tat skandierten die Demonstranten in einer späteren Phase des Aufstands das birmanische Wort für Demokratie di-maw-cra-sir, ein englisches Lehnwort. Ihr erster Schlachtruf war eine birmanische Wendung gewesen, die sich als "Das ist unsere Sache" übersetzen lässt. Ich erinnere mich an einen Silvesterabend in den 1990ern, als mich in Yangon eine Gruppe mir unbekannter junger Leute einluden, mit ihnen zu feiern und mich dann andere wieder andere Jugendliche ein fröhliches di-maw-cra-si zuriefen. ich habe das damals als ein Angebot zur Verbrüderung von "uns Demokraten" verstanden. Aber was meinten meine Silvesterfreunde mit diesem Schlagwort?

Aung San jedenfalls, der Nationalheld, dessen Bild die Demonstranten von 1988 wie ein Schutzschild vor sich her trugen, kämpfte gegen die britische Art von Demokratie, die gleichzeitig kapitalistisch und imperialistisch war. Seine Tochter, in Großbritannien erzogen, behauptete hingegen, ihr Vater habe Demokratie gepredigt. Aber was mochte er gemeint haben, wenn er in seinen Reden von einer dezidiert "birmanischen" Demokratie sprach?

Ich habe versucht, auf diese Fragen Antworten zu finden.

Der Anstoß dazu kam nicht in erster Linie aus meiner intellektuellen Neugier, sondern aus persönlichen Erfahrungen.

 

Eigene Erfahrungen

Nach meiner Rückkehr aus Thailand Ende 1990 ergaben sich Kontakte zu in Hamburg lebenden Birmanen und ihren deutschen Freunden. Sie führten dazu, dass ich mich an der Gründung eines Vereins beteiligte, der ursprünglich den Namen "Deutsch-burmesischer Gesellschaft Hamburg e.V." trug. Der Verein hatte der Einfachheit halber die Satzung eines deutsch-birmanischen Vereins übernommen, der kurz davor in Bruchsal bei Heidelberg gegründet worden war. Wir dachten, es wäre sinnvoll, wenn sich mehrere Vereine an verschiedneen Orten in Deutschland bilden würden, die dann mit vereinten Kräften die deutsche Öffentlichkeit über die Schandtaten der Militärjunta in Birma aufklären würden.

Kurz nach Vereinsgründung erhielt unser Verein allerdings ein Schreiben eines Rechtsanwalts, mit dem uns unter Androhung einer Sanktion untersagt wurde, den Namen "Deutsch-burmesische Gesellschaft" zu führen. Wir änderten also den Namen. Unsere birmanischen Freunde schlugen  "Europäisch-burmesische Gesellschaft" vor und unter diesem Namen wurde der Verein dann ein zweites Mal im Vereinsregister angemeldet.

Harry Tun, der Vorsitzende des Bruchsaler Vereins, war ein Mann mit Ehrgeiz, stellte ich später fest. Er hatte seinen Verein 1989 als Mitglied der Democratic Alliance of Burma eintragen lassen, die von Thailand aus gegen die Militärjunta in Myanmar kämpfte,

Unser Verein war anfangs sehr aktiv und hatte an die 20 Mitglieder, die einen Antrag auf Mitgliedschaft unterschrieben und sich bereiut erklärt hatten, einen Mitgliedbeitrag zu zahlen. Die Aktivitäten ließen nach einigen Jahren nach, die Teilnahme an den regelmäßigen Vereinstreffen auch. Ein deutsches Mitglied des Vereins meine darauf, dass das Wort "europäisch" im Vereinsamen doch wohl etwas zu groß sei und schlug eine Namensänderung vor. Bei der nächsten Jahresvollversammlung waren dann sieben Mitglieder anwesend, die mit 4 gegen 3 Stimmen für eine Namensänderung ("Deutsch-birmanische Gesellschaft") stimmten.

Einige Tage später erklärte mir ein birmanisches Gründungsmitlied des Vereins, der bei der Vollversammlung nicht dabei gewesen war, dass er diesen Beschluss nicht akzeptieren könne. Er sei "undemokratisch" zustande gekommen, da sowohl er als auch viele andere Birmanen an der Versammlung nicht hätten teilnehmen können. Und er wisse, dass alle Birmanen den bisherigen Namen beibehalten wollten. Wenn es bei dem Beschluss bliebe, würde er den Verein unter der alten Bezeichnung weiterführen. Das roch nach Spaltung und so beriefen wir eine weitere Vollversammlung ein, bei der wieder sieben Mitglieder den vorher gefassten Beschluss zurücknahmen.

Ich lernte daraus, dass Demokratie aus birmanischer Sicht etwas anderes bedeuten könnte als aus unserer westlichen und dass es nicht so einfach sei, beide Sichtweisen miteinander in Einklang zu bringen. Diese Einsicht wurde durch andere Erfahrungen bestätigt. Ein Burma-Büro, das mit kirchichen Geldern in Bochum unter dem Dach der Südostasien-Informationsstelle eingerichtet worden war, musste seine Arbeit einstellen, weil es unüberbrückbare Differenzen zwischen unterschiedlichen Fraktionen unter den Birmanen gab. Jede Seite hatte den Anspruch, für alle zu sprechen. Das Burma-Büro wurde dann ein eigener Verein, der im Laufe der Zeit führende Mitglieder ausschloss und heute nur noch als mit einer Adresse im Internet existiert. Daselbe gilt auch für die längst aufgelöste Europäisch-burmesische Gesellschaft sowie für den Verein aus Bruchsal.

Grob gesprochen: Eine gemeinsame Arbeit von Deutschen und Birmanen im Dienste der Demokratieförderung scheint schwierig zu sein. Die Burma-Initiative im Asienhaus Köln, die andere Nachfolgeorganisation des Bochumer Burma-Büros, ist eine rein deutsche Initiative.


Einzelheiten zu meinen Erfahrungen in der Solidaritätsarbeit habe ich 2002 aufgeschrieben.

 

Texte und Analysen

Texte

 

Meine Erfahrungen in der Birma-Solidaritätsarbeit hatten zur Folge, dass ich versuchte, die unterschiedlichen Verständnisse von Demokratie und anderen gesellschaftspolitisch wichtigen Begriffen im birmanischen Kontext zu erkunden. Wie auch beim Myanmar Literature Project war es dabei erst enmal nötig, Material zu finden und zu dokumentieren. Das war gar nicht so schwierig, denn selbst in englischer Sprache gab es reichlich Dokumente, die bisher nur noch nicht ausgewertet worden waren. In einem kleinen Projekt, an dem Dozenten und Studenten aus mehreren deutschen Universitätn beteiligt waren, wurden Stellungnahmen zum Stichwort "Demokratie" in Birma vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart gesammelt und in ihren historischen Kontext gestellt. Das Ergebnis wurde unter dem Titel In Their Own Voice ins Internet gestellt.

Das erste Zitat in dem Band stammt aus dem Februar 1921 aus einer Diskussion über politische Reformen in Birma nach dem Vorbild dessen, was schon in Indien erfolgt war. Die Beratung fand im Beratungsgremium des Gouverneus, dem Governor's Council statt, dem auch einige Birmanen angehörten. Einer von ihnen sagte zu den Reformvorschlägen, die auf eine breitere Beteiligung der Bevölkerung am politischen Geschehen durch die Abhaltung von Wahlen abzielten:

 

It may be said that in India the races are as different from each other as the Esquimau is from the Spaniard or the Irishman from the Turk, but in our country there is practically one caste, one religion, one race and one language.

Our Lord Buddha was a Great Democrat, our religion is the most tolerant of all the great religions. The people are a democratic race, no aristocracy, and their standard of life is practically the same. Their women are are free and enjoy a status higher than that of women in all other countries in Asia.

Burma is an agricultural country, its people are one, their interests are identical and there is no difference of interest to clash if it is ruled by its own people.

Apart from the question of fitness or unfitness, a nation has the natural right of liberty and freedom.

 

Die Botschaft an den Gouverneur und seine britsischen Berater war klar: Ihr müsst uns nichts über Demokratie beibringen. Wir wissen längst, was das ist - schließlich ist unsere buddhistische Kultur älter als eure.

Diese selbstbewusste Haltung gegenüber westlichen Ratschlägen der Demokratieförderung ist in Myanmar bis heute zu beobachten - und nicht nur dort.

Die ersten Wahlen, die dann 1922 nach den erfolgten Reformen waren ein totaler Fehlschlag. Sie wurden von den Birmanen unter der Führung von Mönchen boykottiert. Ein Hauptargument war:Das aktuelle Staatsoberhaupt von Britisch-Birma, der britische König, ist kein Buddhist. Deshalb können Verfassungen, die unter seiner Patronage erstellt werden, nicht legitim sein. Die Wahlbeteiligung bei den ersten Wahlen lag dann unter 7 %.

Die erste Periode der Geschichte Birmas nach der Unabhängigkeit wird gerne als "demokratisch" bezeichnet, weil die 1947 verabschiedete Verfassung ein System vorsah, das sich an westlichen Modellen der Gewaltenteilung orientierte. In der Praxis war es eine von Aung San gegründete und nach dessen Ermordung von seinem Weggefährten Nu geführte Einheitsfront, die die Politik dominierte. Als die Liga bei den Wahlen von 1956 Stimmen verlor und nicht mehr behaupten konnte, dass sie die gesamte Bevölkerung repräsentierte, gab es eine tiefe politische Krise, die dazu führte, dass der Chef des Militärs, Ne Win, im September 1958 gebeten wurde, die Regierung zu übernehmen und Neuwahlen zu organisieren. Das tat er dann auch.

1960 fanden Wahlen statt, die von den beiden Flügeln der auseinandergebrochenen Einheitsfront dominiert wurden. Nu schrieb aus diesem Anlass ein Theaterstück - er hatte ursprünglich Schriftsteller werden wollen - zum Thema "Demokratie". Der obige Text ist ein Auszug aus seinem Vorwort. Demokratie wird hier an die zentralen buddhistischen Tugenden gebunden.

Analytische Überlegungen

 

Dasselbe gilt nun auch für die jüngste Gegenwart. Das Militär, das Myanmar von 1988 bis 2011 regierte, stützte sich auf die Legimitation durch den Buddhismus, die ihr allerdings von der Bevölkerung nicht abgenommen wurde. Die vertraute der Tochter des Nationhelden Aung San, die 1988 zufällig in Birma war, nachdem ihre Mutter schwer erkrankt war. Aung San Suu Kyi begründete das birmanische Verständnis auf die klassischen zehn Tugenden eines buddhistischen Herrschers. Die erste dieser Tugend ist Freigiebigkeit (dana), die letzte das Prinzip nichts zu tun, was dem Willen des Volkes widerspricht. In einem Aufsatz zum Thema, der sich in dem Band befindet, der aus Anlass der Verleihung des Friedensnobelpreises herausgegeben wurde, schrieb sie:

 

The people of Burma view democracy not merely as a form of government but as an integrated social and ideological system based on the respect for the individual.

 

Damit wird ein buddhistisches System des Verhältnisses zwischen Volk und politischer Führung zum Maßstab für ein multi-ethnisches und multi-religiöses Land. Dieses Modell lässt sich im Blick auf die birmansiche Geschichte als "monarchisch" beschreiben, weil es seinen Schwerpunkt nicht auf formale Konfliktkontrolle wie die in einer Verfassung geregelte Gewaltenteilung legt, sondern auf eine Fortsetzung der "integrativen" Systeme wie sie schon von Nu und Ne Win versucht worden waren, nur dieses Mal unter dem Vorzeichen von "Demokratie".

Dem gegenüber lässt sich das Modell des Militärs als "konstitutionell" beschreiben. Im Zentrum steht hier eine Verfassung, die die Einheit des Landes sichert um den Preis "undemokratischer" Elemente wie sie durch die besonderen Rechte des Militärs in der 2008 verabschiedeten Verfassung zweifellos gegeben sind.

Das Problem des "monarchischen" Demokratieverständnisses wird dramatisch am Schicksal von Aung San Suu Kyis Vater deutlich. Ihm vertraute nach dem Ende des 2. Weltkrieges das ganze Land, große Teile der ethnischen Minderheiten eingeschlossen. Seine Partei gewann bei den ersten Wahlen von 1947 fast alle Sitze in der Verfassunggebenden Versammlung. Kurz danach wurde er ermordet. Danach zerfiel Birma in eine Vielzahl von Interessengruppen und ein Bürgerkrieg begann.

Aung San Suu Kyi bei einer Ansprache im Jahr 1995
Aung San Suu Kyi bei einer Ansprache im Jahr 1995

Allerdings lassen sich auch bei Aung San Suu Kyi Zweifel an ihrem "integrativen" System erkennen. Die Wahlergebnisse in Birma wie in Myanmar gaben den Siegern immer eine überwältigende Mehrheit. Eine starke parlamentarische Opposition hat bisher immer gefehlt. Damit gibt es keine Grundlage für die Art des Machtwechsels, wie sie in westichen demokratischen Systemen üblich ist. "Opposition" meint daher in Myanmar bisher immer in erster Linie "außerparlamentarische Opposition", die nach der Übernahme der Regierung strebt.

 

In einer der Reden, die sie in den Jahren 1995 und 1996 über das Tor ihres Grundstücks in der University Avenue hielt, hat sie das Problem im Blick auf den überwältigenden Wahlsieg ihrer Partei bei den Wahlen von 1990 so formuliert:

 

 

The NLD won more than 400 seats…this means that other parties are extremely weak. It’s not good that only the NLD is strong. We need to empower the opposition. We need to encourage opposition parties. If the NLD is growing too strong, we have to take time and efforts to encourage other parties. (applause) If the NLD is too strong, the NLD members can get complacent and less diligent. In a democracy all political parties have to be strong. Now we have relations with other parties. We would like to be on good terms with them, as we want them to have popular support too.


Damit stellt sich die interessante Aufgabe, dass die stärkste Partei, die auf Grund des Vertrauens in ihre Führerin fast alle Stimmen gewonnen hat, auch für eine starke Opposition sorgen muss. Wie das gehen kann, bleibt unklar. Gegenwärtig konzentriert sich in Myanmar im Blick auf die nächsten Wahlen von 2015 alles auf die Frage, ob Aung San Suu Kyi dann Präsidentin des Landes werden kann.

Anders gesagt: Es ist die Frage, wie das bisher vorherrschende System des Vertrauens in Personen (und des entsprechenden Misstrauens in die "Anderen") in ein Vertrauen in stabile Institutionen umgewandelt werden kann.

Schwierige Themen

Mein "Spezialgebiet" ist der Zusammenhang zwischen Theravada-Buddhismus und Politik und der daraus herauswachsenden politischen Kultur. Das ist ein schwieriges Thema, da es etwas mit der Frage zu tun hat, wie religiöse Texte politisch interpretiert werden. Ohne Antwort auf diese Frage lässt sich schwer klären, mit welcher Legitimation Mönche in Myanmar auf die Straße gehen, um politische Forderungen durchzusetzen - teils gegen die Regierung wie in der sogenannten Safran Revolution, teils zu ihrer Unterstützung wie etwa vor einiger Zeit gegen die muslimische Bevölkerung im Land. Dazu habe ich vor einier Zeit unter der Überschrift "Hermetic Hermeneutics?" einen bisher unveröffentlichten Artikel geschrieben.